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aileenogrian.overblog.com

Autorin von Science Fiction und Fantasy

Wohltuende Langsamkeit

Die letzten Töne verklangen.
„An dem Adagio müssen wir noch arbeiten“, meinte Alexander. Er drehte sich auf dem Klavierhocker zu seiner Frau um.
„Heute nicht. Ich will noch gleich in den Literarischen Salon. Henny hat den neuen, jungen Dichter eingeladen. Er soll hervorragend sein“, sagte Barbara und packte ihr Cello ein.
„Ich habe auch schon von ihm gehört. Gehst du bei den Eltern vorbei?“
„Natürlich, ich bringe ihnen die Einkäufe. Markus möchte, dass du ihrer Band hilfst. Sie haben Probleme mit dem Tempo und brauchen einen Lehrer.“
„Sag lieber Dirigenten. Kann ich machen. Ich muss nur noch den Artikel fertigschreiben und zur Redaktion bringen.“
„Willst du ihn nicht mailen?“ Barbara stellte das Cello in die Ecke.
„Nein, der Spaziergang tut mir gut und das Gespräch mit Kollegen und Herausgeber ist immer so stimulierend.“
„Dann nimm doch Lissy mit. Sie will unbedingt wieder einmal in die Redaktion.“
„Hast du heute Nachtdienst?“
„Nein, erst morgen. Da gehe ich gleich vom Theater aus hin, dann kann ich vor der Schicht noch am Forschungsbericht schreiben. Unsere Arbeitszeiten sind wirklich verträglich. Es ist schön in einem Krankenhaus zu arbeiten, in dem es genügend Personal gibt. Wir haben Zeit für die Patienten und immer ausreichend Erholungsphasen. Zwölf bis fünf Uhr ist zwar die Zeit in der ich am müdesten bin, aber bis die Kinder aus der Schule kommen, habe ich ausgeschlafen und kann mich dann auf sie einlassen.“
„Gut, dann bleibe ich morgen Abend zu Hause und verhandle mit den Kollegen mit Hilfe der Konferenzschaltung. Wirklich bequem, die Generationen vor uns würden uns beneiden.“
„Wie gut, dass du dich an der Kindererziehung beteiligst.“ Barbara umarmte ihren Mann.
„Das ist doch selbstverständlich“, winkte Alexander ab. Er klappte den Klavierdeckel zu und setzte sich an den Schreibtisch.
Barbara zog ihr Wollkostüm an. Es war sehr teuer gewesen, aber die Anschaffung hatte sich gelohnt. Sie trug es jetzt seit fünf Jahren, und es sah immer noch wie neu aus.
Sie nahm ihren Einkaufskorb und packte das Gemüse ein. Ihre Schwiegereltern wurden von ihren Händlern versorgt. Fleisch, Brot und Milch lieferten sie an. Gemüse wollten sie aber lieber frisch vom Markt, also brachten Barbara oder Alexander es ihnen vorbei. Es war eine Gelegenheit, bei den alten Leuten nach dem Rechten zu sehen und ein paar Handgriffe im Haushalt zu erledigen.
Ihre Schwiegermutter plagte die Arthrose, trotzdem führte sie noch immer täglich zwei Stunden lang die Bücher ihrer alten Firma. Sie konnte mit ihrem Telearbeitsplatz zu Hause arbeiten. In ihrer Freizeit erstellte sie für Freunde und Vereine Hompages. Diese Tätigkeiten gaben ihr das Gefühl gebraucht zu werden und hielten sie geistig fit. Außerdem besuchte sie gerne Konzerte und Ausstellungen.
Barbaras Schwiegervater ging täglich für zwei Stunden zu seiner alten Schule. An drei Tagen gab er Physikunterricht, an zwei Tagen half er bei den Hausaufgaben. Manchmal sprang er auch noch als Förderlehrer ein. Die Besprechungen fanden normalerweise zeitsparend in den Pausen statt. Nur seine Tätigkeit als Übungsleiter im Tennisclub hatte er vor ein paar Jahren aufgegeben. Seine achtzig Jahre waren ihm nicht anzusehen.
Nachdem er nicht mehr soviel arbeitete, hatte er mehr Zeit für seine Malerei, und es ging alles etwas langsamer.
Barbara hoffte, im hohen Alter genauso rüstig zu sein. Die Aussichten waren gut. Seit nicht mehr soviel gearbeitet wurde und das Autofahren für Privatpersonen verboten worden war, war die Lebenserwartung nach einem kurzen Einbruch sprunghaft gestiegen. Die Leute lebten geruhsamer, genossen wieder Kleinigkeiten.
Es hatte etwas mehr als eine Generation gedauert, bis die Menschen sich damit abgefunden hatten, weniger Geld zu besitzen, nicht mehr so viel konsumieren und reisen zu können. Aber dafür hatten sie mehr Zeit für wichtige Dinge im Leben wie Musik, Kunst, Literatur, Philosophie und Religion. Familien rückten enger zusammen und das soziale Leben wurde bedeutsamer. Durch die gegenseitige Förderung entstand eine kulturelle und soziale Blüte. Keiner wurde allein gelassen. Jeder fand seinen Platz im Leben.

©Aileen O‘Grian

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