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aileenogrian.overblog.com

Autorin von Science Fiction und Fantasy

Hilfsbedürftige Eltern

„Papa hilft mir nicht“, sagte Elfriede.

Sigi hörte die weinerliche Stimme ihrer Mutter. „Was ist denn los, Mama? Schalte doch bitte das Bild an.“

Natürlich reagierte ihre Mutter nicht. Sigi seufzte. Was sollte sie tun? Sie lebte nun einmal aus beruflichen Gründen fünftausend Kilometer von ihren Eltern entfernt. Sie hatte schon wiederholt angeboten, in ihrer Nähe ein Seniorenheim für sie zu suchen, aber die beiden Alten wollten nicht aus ihrer angestammten Umgebung weg.

„Mama, bitte, schalte den Bildschirm an. Das ist der große, grüne Knopf rechts unten.“

Sigi hörte das Klicken der Schalter, aber das Bild war noch immer nicht da.

„Dann hole doch bitte Papa ans Telefon.“

Schweigen. Nach einer längeren Zeit sagte Mama: „Er kommt nicht ans Telefon.“

„Warum kommt er nicht ans Telefon? Kannst du ihm das Telefon hinbringen?“

Wieder schweigen. Die Minuten dehnten sich endlos.

„Mama, sag doch etwas? Wie war der Ausflug mit der Ü 90 Gruppe?“

„Welcher Ausflug?“

„Ihr wart doch gestern mit dem Bus an der See. Wie war es? Gab es guten Kuchen?“

„Erdbeertörtchen. Aber Papa wollte keins essen. Er hat mir seins gegeben.“

„Das ist auch richtig. Papa darf doch keinen Zucker essen.“

„Aber das waren Erdbeeren.“

„Ja, aber der Kuchen enthält Zucker.“ Sigi unterdrückte ein Stöhnen.

„Bring bitte Papa das Telefon. Ja, nimm es aus der Ladestation und bring es zu Papa.“

Endlich schien sich das Telefon zu bewegen. Sigi hörte die Schritte auf dem Holzfußboden.

„Sigi? Ich bin gestürzt und Mama kann mich natürlich nicht aufrichten.“

„Warum ruft ihr nicht gleich den Pflegedienst. Ich mache es, bleib bitte am Apparat.“

Sigi drückte das Gespräch weg und wählte den Notruf des Pflegedienstes in Deutschland.

„Kundennummer D78590436, ein Notfall, Roboter A78 sofort in die Schillerstraße 198, fünfzehnter Stock zu Walter Neumann.“

„Roboter A78 setzt sich sofort in Bewegung“, sagte die elektronische Stimme.

Sigi atmete auf. Dann holte sie das Gespräch mit ihrem Vater zurück in die Leitung.

„Papa, der Pflegeroboter ist auf dem Weg. Wie geht es dir? Bist du verletzt?“

„Nichts Ernsthaftes, ich komme nur nicht mehr hoch.“

„Warum trägst du deinen Notrufsender nicht?“

„Ich dachte, es sei nicht nötig.“

„Bitte, trage ihn zukünftig.“

Sigi hörte es an der Tür klingeln.

„Da ist er schon“, sagte ihr Vater. Natürlich hatte auch er das Bild nicht angeschaltet. Sigi vermutete, dass er seine Gründe dafür hatte. Wahrscheinlich war er doch schlimmer gefallen, als er zugeben mochte.

„Elfriede, wo bleibt der Pflegedienst?“, rief Papa.

„Da ist kein Pflegedienst, da ist so eine komische Maschine vor der Tür.“

„Elfriede, mache bitte die Tür auf, das ist der Pflegedienst.“

„Nein, ich habe Angst.“

Sigi hörte hastige Schritte, dann knallte eine Tür.

„Hat der Roboter denn nicht euren Türcode?“

„Nein, natürlich nicht“, empörte sich Papa.

„Und wie soll er jetzt hereinkommen?“

Wieder gab es keine Antwort. „Gut, dann rufe ich jetzt noch einmal den Pflegedienst an und gebe den Türcode durch.“

„Nein, dann bekommt deine Mutter noch mehr Angst. Wer weiß, ob sich ihr Verstand dann nicht völlig verabschiedet.“

„Verdammt und zugenäht!“, fluchte Sigi. „Mensch, Papa, wie soll ich euch denn helfen?“

„Kann nicht ein richtiger Mensch kommen?“

„Ich werde sehen, was ich machen kann.“ Sigis Gedanken rasten. Welche Nachbarn kannte sie? Nur Kunzes und Schulzens, aber die waren selbst viel zu alt, um zu helfen. Gab es keine Migranten, die noch im Pflegedienst arbeiteten? Sigi fiel der Name der letzten Firma, die noch mit afrikanischen und indischen Arbeitnehmern gearbeitet hatte, nicht ein. Aber sicher gab es sie auch nicht mehr. Sie wählte wieder die Nummer des Pflegedienstes.

„Kundennummer D78590436, meine Mutter lässt Roboter A78 nicht in die Schillerstraße 198 zu Walter Neumann.“

„Das hat uns A78/3759 schon mitgeteilt“, sagte die elektronische Stimme.

„Haben Sie menschliche Pfleger oder Ärzte, die hingehen können?“, bat Sigi.

„Negativ. Aber Roboter T-650 sieht aus wie ein Mensch, soll ich ihn losschicken?“

„Bitte.“

„T-650 ist aber zu instabil, um Menschen zu heben oder zu betten. Er wird nur für medizinische Untersuchungen eingesetzt.“

„Losschicken, er muss dann eben A78 mit hineinnehmen.“

Was würde das wohl kosten? Sigi mochte gar nicht an die Rechnung des Pflegedienstes denken.

„Papa? Bist du noch dran?“

„Ja, kommt jemand?“

„Ja, der Pflegedienst schickt jemanden, der kann dich aber nicht allein hochheben, also muss er den Roboter mit hineinnehmen.“

„Das wird schon gehen, der Roboter kommt ja sonst auch immer zu uns.“

Vorsichtshalber blieb Sigi am Telefon und unterhielt sich weiter mit ihrem Vater. Ihre Mutter hatte ihre Angst schon wieder vergessen und wuselte um ihren Vater herum. Ein paar Mal forderte sie ihn auf, endlich aufzustehen. „Du wirst noch ganz krank, wenn du auf dem Boden liegst.“

„Ich stehe auf, sobald der Mann kommt, der mir dabei hilft“, versprach Papa.

Endlich klingelte es wieder an der Tür. Sigi hörte ihre Mutter hingehen.

„Wie geht es Ihnen“, fragte eine weibliche Stimme.

„Mein Bein schmerzt.“

„A78, anheben.“

Das Bild erschien. Sigi sah, wie der kleine, tonnenförmige Roboter Schienen unter ihren Vater fuhr, ihn anhob und ins Schlafzimmer brachte. Dann scannte die Maschine seine Körperfunktionen.

„Das linke Bein ist gebrochen, linker Ellenbogen, Hüfte und Schulter haben Prellungen. Ich gebe ein Schmerzmittel und schiene das Bein“, sagte die weibliche Stimme. Das Telefon wurde auf den Nachttisch abgelegt. Sigi konnte eine attraktive Frau im mittleren Alter mit einer flotten Kurzhaarfrisur erkennen, die aus einem Arztkoffer Schienen holte. Mit wenigen Handgriffen entfernte sie die Hose, legte die elastischen Schienen an und passte sie mit dem Thermoformer an. Dann salbte sie die Prellungen ein. Zum Schluss maß sie noch den Blutdruck und gab Papa zwei Spritzen.

„Wie geht es Ihnen, Frau Neumann?“, fragte sie und lächelte Mama freundlich an.

„Gut, aber ich bin immer so vergesslich.“

T-650 scannte Mama, maß den Blutdruck, dann holte sie eine Packung Tabletten aus dem Koffer.

„Ihre Frau muss dreimal am Tag diese Tabletten nehmen, die helfen bei der Rekonstruktion der Nervenzellen.“

„Ich denke, es gibt kein Mittel gegen Alzheimer?“, fragte Papa erstaunt.

„Das Mittel ist neu, es hilft auch nicht perfekt, sondern stoppt vorerst nur den Abbau der Nerven.“

T-650 verabschiedete sich mit einem Handschlag, gab A78 ein Zeichen und verließ mit ihm die Wohnung.

„Die Ärztin ist wirklich sympathisch. Dass es so etwas noch gibt“, sagte Papa.

„Ja, wirklich ein Glücksfall.“ Sigi beschloss, ihren Vater in dem Glauben an eine menschliche Ärztin zu lassen.

©Aileen O’Grian

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