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Autorin von Science Fiction und Fantasy

Begegnung mit seinem Klon

Müde legte Christian das Buch auf den Tisch und strich mit seiner Hand über seine Augen. Er brauchte dringend neue Linsen, sein grauer Star war schon weit fortgeschritten. Aber nicht nur seine Augen arbeiteten kaum noch, auch sein Herz versagte, ebenso wie seine Nieren, immer mehr. Eine Folge seiner Diabetes. Sollten seine neuen Organe gesund bleiben, brauchte er eine neue Bauchspeicheldrüse. Er konnte nicht verstehen, wieso die Mediziner des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts seine Diabetes so lange übersehen hatten. Als sie entdeckt wurde, war sein Körper schon stark geschädigt. Ungeduldig wartete Christian darauf, dass sein Klon heranwuchs, noch waren seine Ersatzteile für eine Transplantation zu klein.

Ein Geräusch ließ Christian zusammenfahren. Angespannt lauschte er. Es war schon spät. In dem Wohnblock gegenüber brannte kein Licht mehr. Als er nichts hörte, entspannte sich Christian und nickte ein. Eine Bewegung ließ ihn hochfahren. Aus dem Dunkeln trat eine Gestalt auf ihn zu.

„Wer bist du? Was willst du?“, fragte Christian mit zittriger Stimme.

„Ich bin Klon 87HT598. Ihr Klon“, stieß der Junge hervor.

„Wieso bist du nicht im Klongarten?“, fragte Christian und trommelt mit seinen Fingern auf der Lehne seines Sessels.

„Ich bin geflüchtet. Ich will nicht sterben, ich will leben“, schrie der Junge.

„Aber du bist doch nur ein Klon.“ Christian starrte sein verjüngtes Ebenbild an. Bisher war es nur eine Nummer, eine Akte für ihn gewesen.

„Und deshalb habe ich kein Recht auf ein Leben?“

„Der Sinn deines Lebens ist, mein Leben zu retten.“ Christians Herz raste, mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

„Das ist doch kein Sinn.“ Mit großen, vorwurfsvollen Augen schaute der Junge Christian an.

„Wenn ich dich nicht bräuchte, würdest du nicht existieren“, verteidigte sich Christian und rutschte im Sessel hin und her.

„Aber ich bin jung und gesund, ich habe mein ganzes Leben vor mir, wenn ich nicht verwendet werde. Warum soll ich für Sie sterben? Sie haben ihr Leben gelebt. Sie sind alt und krank“, warf der Junge Christian vor.

„Aber du bist kein Mensch.“ Christian griff sich an die Brust.

„Was bin ich sonst?“ Der Junge trat noch einen Schritt näher.

„Ein Klon.“

„Ist ein Klon kein Mensch? Habe ich kein Recht auf Leben?“

Christian wand sich.

„Schau, ich bin Wissenschaftler. In meine Ausbildung wurde viel Geld und Zeit investiert, mit neuen Organen kann ich noch viele Jahre leben und forschen und der Menschheit noch große Dienste erweisen“, sagte er mit leiser Stimme. Er rang um Atem.

„Das könnte ich noch viel mehr Jahre.“

„Aber du bist nicht ausgebildet, wirst es nie sein.“ Mit zitternder Hand öffnete Christian eine Pillendose, steckte sich mühsam eine Tablette in den Mund und hob ein Glas Wasser zum Mund.

„Ist das meine Schuld? Warum besuche ich keine Schule?“

Christian nahm ein paar Schlucke Wasser, dann setzte er das Glas ab.

„Klone brauchen keine Ausbildung. Sie arbeiten später sowieso nicht. Sie müssen sich nur gut ernähren und Sport treiben, damit der Körper gesund und belastbar ist.“

Der Jung trat auf Christian zu. Erschrocken rutschte der Alte tiefer in seinem Sessel zurück.

„Keine Angst, ich tue Ihnen nichts. Schließlich bin ich ein Teil von Ihnen. Aber ich werde mich auch nicht für Sie schlachten lassen. Ich will mein eigenes Leben leben. Ich bin jung und gesund. Ich lerne schnell, und ich kann arbeiten. Ich liege niemandem auf der Tasche. Aber ich gehe nicht in den Klongarten zurück.“ Der Junge nickte Christian zu, drehte sich um und ging.

„Warte, lauf nicht weg, du bist doch mein Leben“, jammerte Christian hinter ihm her und richtete sich mühsam auf.

©Aileen O‘Grian

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